Über die Kraft der inneren Stimme

Auf der einen Seite gibt es Wissen in Form von Analyse und Fakten, der Wissenschaft zugeordnet, auf der anderen Seite gibt es Wissen in Form von Gefühl. Hier sagt mir meine innere Stimme, ob sich etwas gut und stimmig oder falsch und verdreht anfühlt.

Wir alle werden mit einer gesunden inneren Stimme geboren. Das heißt: jeder von uns trägt bereits eine individuelle Unterscheidungsfähigkeit und hieraus folgende Urteilskraft in sich. Diese Grundhaltung basiert auf den eigenen Werten und den damit verbundenen Bedürfnissen. Jeder Mensch braucht also für seine persönliche Entwicklung etwas anderes. Die innere Stimme weiß, was die eigene Persönlichkeit nährt, heilt und sie wachsen lässt.

Allerdings werden wir auch in eine bestimmte Familie und Kultur hineingeboren, welche uns prägt. Dadurch wird das eigene Wissen im Laufe unseres Heranwachsen immer mehr durch das Denken der Gemeinschaft, der Familie und der Kultur überlagert und eingefärbt.
So verlieren wir das natürliche Vertrauen in unsere eigene Stimme, besonders wenn diese nicht mit dem Allgemeinwissen oder mit der Meinung des näheren Umfeldes übereinstimmt.
Zugleich gibt es meist wenig offene Reibungsfläche im Austausch innerhalb der Gemeinschaft, die dazu führen könnte, die eigene Meinung zu überprüfen und hierbei zu lernen, durch Kritik und Ablehnung innerlich zu reifen und somit zu einem gesunden Verständnis über sich selbst und den eigenen Platz in der Welt zu kommen.

Ob ich es wage, meiner inneren Stimme zu folgen, oder mich an der Meinung von Autoritären orientiere, ist abhängig vom jeweiligen Grad der eigenen inneren Freiheit. Die eigene Freiheit zu leben hat allerdings meist den Preis, dass man auf sich selbst gestellt ist. Man muss also das Bedürfnis nach Zugehörigkeit, Harmonie und Sicherheit durch Rückhalt loslassen.

Als ich zwölf Jahre alt war, verspürte ich den Wunsch nach einem Rückzugsraum in Form eines eigenen Zimmers. Das geteilte Zimmer mit meiner jüngeren Schwester wurde mir „zu eng“. Nach vielen Diskussionen mit meinen Eltern, welche immer mit einem Nein endeten, beschloss ich, das vorhandene, stets leerstehende Gästezimmer „zu besetzen“. Es folgten zwei Wochen, in denen meine Eltern versuchten, durch Entzug von Komfort – die Tür zum Treppenhaus blieb nachts offen, ich durfte meine eigene Bettdecke nicht benutzen, usw… – das Gästezimmer zu retten. Meine Beharrlichkeit war am Ende aber stärker und ich bekam mein eigenes Reich.

Dies war eine prägende Erfahrung für mich. Es war nicht einfach, zwei Wochen mit dem „Entzug“ zurechtzukommen. Doch meine innere Stimme war fest und ich fühlte die Dringlichkeit hinter meinem Anliegen. Es ging nicht um einen Machtkampf, sondern um das tatsächliche Bedürfnis nach Freiraum. Dadurch lernte ich, dass es sich lohnt, den Preis von Entbehrung zu zahlen, um dadurch einen Wunsch zu verwirklichen.

Auch später in meinem Leben habe ich immer wieder die Erfahrung gemacht, dass ich mich gegen Autoritäten wie Ärzte oder Lehrer mit meiner eigenen Stimme stellen kann, wenn sich deren Meinung für mich nicht stimmig anfühlt. Auch hier war die Erkenntnis: Ich musste durch den Engpass von „Allein-Sein“ und „auf-mich-selbst-gestellt-sein“ hindurchgehen, um am Ende Respekt und Anerkennung zu bekommen.

Ich spreche hier übrigens nicht von dem Leid, welches oftmals mit einer Fixierung auf materielle Werte oder Rollenbilder einhergeht und Menschen in Ohnmacht und Verzweiflung hält.
Die innere Stimme weist den Weg zu dem, was ich brauche, um mich selbst verwirklichen zu können. Sie ermutigt, die- oder derjenige zu werden, welche oder welcher man in der eigenen Wesensanlage wirklich ist. Der gesunde innere Impuls steht oftmals in großem Widerspruch zu dem, was man gerne sein möchte oder was man glaubt, sein zu müssen, um Erfolg, Wohlstand und Anerkennung zu erlangen.

Der inneren Stimme zu folgen bedeutet also, weder die Tatsachen einer Situation oder das eigene Selbst zu leugnen, noch sich der eigenen Stimmungslage zur Verfügung zu stellen. Es ist ein innerer Impuls, welcher wider besseren Wissens sagt: „Nein, tu das nicht“ oder „Ja, das ist es“. Dafür gibt es keine Erklärung und wenn ich diesem Impuls nicht folge, dann bleibe ich mir selbst nicht treu. Diese Haltung ist die Grundlage zur Unterscheidungsfähigkeit: Die Fähigkeit zur Reflexion und die Gabe, sich selbst zu versorgen. Anders formuliert: ich bin fähig, meine eigenen Motivationen zu hinterfragen und mich in den damit einhergehenden Empfindungen, wie beispielsweise Frustration, Mangel oder Scham, zu halten.

Je herausfordernder die Umstände, umso wichtiger ist der eigene Kopf. Dies kann man in der aktuellen Krise, welche unseren Alltag derzeit bestimmt, gut beobachten. Die Phase der Informationsflut ist vorbei, nun befinden wir uns in der Phase des „noch nicht wissen“. Beides verunsichert: zu viel Information und zu wenig Information.
Fragen, die in diesem Zusammenhang auftauchen, sind: Wem kann man glauben? Was ist wahr an all dem, was mich über die Medien erreicht? Was bedeutet all dies für die Zukunft? Wann wird unser Leben wieder normal?

Letztens habe ich eine Frage an York Hovest (Fotomodell, Fotograf und Umweltaktivist), welcher mit Dalai Lama befreundet ist, im Eins zu Eins Talk des Bayrischen Rundfunk gehört. Die Frage des Moderators: „Herr Hovest, was denken sie würde uns der Dalai Lama zum Umgang mit dem Virus raten?“. Seine Antwort: „Nüchternheit und Mitgefühl“. Einfach genial.

Für mich brachte Hovests Antwort die Lage auf den Punkt: Es geht darum, sich selbst in den eigenen Befindlichkeiten nicht zu wichtig zu nehmen, sich aber trotzdem die notwendige Zuwendung zu geben, die man braucht. Einen Zugang zur eigenen Wahrheit findet man, wenn man mit sich selbst im Frieden ist.

Ich glaube, die wirkliche große Herausforderung, welche derzeit mit dem Lockdown und den noch folgenden Konsequenzen einhergeht, ist die, sich selbst nicht zu bewerten und zu verurteilen für die eigenen Bedürfnisse und Wünsche, aber auch nicht in die kleinen und großen Dramen zu verfallen, welche damit einhergehen.
Beides verhindert den Zugang zur eigenen inneren Stimme.

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