Die „Lauf-Freude-App“

 

Seit gut einem Jahr gehe ich nun schon regelmäßig laufen und gestalte mein Pensum intuitiv, abhängig von meiner jeweils aktuellen Konstitution.
Das heißt: entweder ich laufe, walke oder gehe, je nachdem was ich gerade brauche, um mich in der Bewegung wohl zu fühlen.

Nun wollte ich mir für die Erkundung neuer Laufstrecken einen Kilometerzähler als App für mein Handy laden. Hierzu habe ich den App-Store meines Handy durchforstet und mir unter den diversen Angeboten eine Lauf-App ausgewählt. Diese habe ich dann auch gleich begeistert installiert.

Bevor die App mit dem Kilometer zählen beginnen konnte, wollte diese noch einige wichtige Einstellungen von mir wissen, um so mein individuelles und optimales Lauftraining zu erstellen.
Neben den Fragen zu meinem Alter, Gewicht und den aktuellen Schuhen, wollte die App noch erfahren, welches Laufziel ich habe und in welchem Zeitraum ich dieses Ziel erreichen möchte. Denn mit einer konkreten Zielvorgabe sei ich motivierter und hieraus folgend erfolgreicher, las ich in der App.
Als weitere Motivation wurde mir angeboten, Freunde einzuladen, um mich mit ihnen im Laufduell zu messen und so meine Laufleistung zu steigern und noch effektiver zu werden.
Zudem gab es schon vorgefertigte Laufmodelle für Lauf-Anfänger, zum Beispiel zum Abnehmen und zum Training für einen Marathon.
Daraufhin sollte ich nur noch loslegen und den Startknopf zum Messen und Bewerten meiner Laufstrecke drücken.

In diesem Moment verflog meine anfängliche Begeisterung über die mögliche Unterstützung und Motivation durch die App.
Plötzlich wurde in mir eine Enge fühlbar. Der Leistungsdruck und das Ziel, meinen Körper bestimmen zu wollen, erinnerte mich an meine Vergangenheit, als ich früher, Anfang 30, beim Laufen immer im Kampf mit meinem Körper und meiner Empfindsamkeit war. Für dieses Duell brauchte ich keine Laufkameradschaft, es genügte mir mein eigener Leistungsanspruch. Damals wollte ich der Sieger über meinen Körper, mit all seinen Unzulänglichkeiten und Grenzen, sein.

Es war die Jagd nach dem Erfolg im Überwinden meiner Empfindsamkeit, welche mich immer wieder in die Knie zwang. Das Ausbremsen begegnete mir in Form von Asthma. Dieses Symptom meines Körpers erschien mir als Bestrafung und weckte meinen Ärger darüber, dass ich mich nicht bewegen konnte. Je mehr ich versuchte mit Medikamenten und weiterem Lauftraining zu Atem zu kommen, umso verkrampfter wurden meine Bronchien. Irgendwann kam der Tag, an dem gar nichts mehr ging.
Über viele Jahre hinweg war ich daraufhin in der Laufpause.

In dieser Zeit habe ich mich intensiv mit meiner Empfindsamkeit beschäftigt. Mein Körper wurde mein Lehrer. Dadurch erkannte ich, dass meine körperlichen Grenzen mich fordern in geistiger Entfaltung und emotionaler Tiefe. Hierbei durfte ich lernen, die inneren seelischen Bewegungen ebenso wertzuschätzen wie die äußeren körperlichen Bewegungen.

So empfinde ich heute große Dankbarkeit darüber, dass meine körperlichen Empfindungen mich aufmerksam machen, aufs Innehalten und damit verbunden aufs konkrete Anhalten. Wenn ich heute beim Laufen keine Kraft mehr in den Beinen habe, oder außer Atem bin, ich also den Punkt fühle, an dem ich mich und meinen Körper bezwingen muss, um weiter laufen zu können, dann höre ich auf meine innere Bewegung.
Dann lasse ich los, beginne, entspannt zu spazieren und erfreue mich der Natur um mich herum und meiner gewachsenen Fürsorge mir selbst gegenüber.

Diese Gedanken, die Erinnerung an mein Laufgefühl in der Vergangenheit und die Freude über mein Laufen heute haben in mir die Idee einer „Lauf-Freude-App“ geweckt.

Dies wäre eine App, welche motiviert, die Erfahrungen des Laufens in den Vordergrund zu stellen. Man könnte Freunde zum Austausch über das individuelle Laufgefühl und die Erfahrungen im jeweiligen Lauf einladen.
Es gäbe ein Wochenprofil, welches am Ende der Woche zeigt, wie hoch mein Level an Freude in dieser Woche war und wie viele Erfahrungen ich durch das Laufen gesammelt habe. Die Bereicherung des Laufen Gehens wird angezeigt, nicht die Distanz zum festgelegten Ziel.
Außerdem gäbe es vielleicht einen Piepton, ein Warnsignal, das daran erinnert: Du bist gerade im Leistungsmodus, im Vergleich oder im Wettbewerb mit anderen. Pass auf!

An dieser Stelle möchte ich gerne die Brücke schlagen zu meinem Modell des „Lebens-Alpinisten“. In diesem Modell steht die Erfahrung der Auseinandersetzung mit der eigenen Wesensnatur im Vordergrund. An dieser Erfahrung misst der Lebens-Alpinist seine eigene Größe und beginnt die eigenen Grenzen anzuerkennen oder über sich selbst hinauszuwachsen.

Der Weg ist das Ziel.

Also wäre das Ziel meiner „Lauf-Freude-App“: der Weg selbst.
Diesen Weg gilt es zu erfahren. In jedem Fall wird das Ziel erreicht. Wie es erreicht wird, ist frei und unterliegt keiner Wertung.
Es geht darum, mich immer wieder neu auf die Erfahrung des Laufweges einzulassen. Erfolgreich bin ich, wenn ich den Weg so laufe, wie er sich heute für mich zeigt.
Denn dann bin ich in Freude beim Laufen und lasse die Wertungen der äußeren Form meiner Bewegung los.

Die Lauf-App habe ich inzwischen wieder gelöscht. Eine „Lauf-Freude-App“ gibt es zwar (noch) nicht und bleibt wohl ein theoretisches Wunschdenken, aber am Besten läuft es sich sowieso ohne Handy.

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